Ein gut gekleideter Mann, Anfang Dreißig, mit einem schwarzen Schnauzbart, legt das Buch aus der Hand, in dem er blätterte und geht spontan auf Nietzsche zu.
Gotthelf: Welche Überraschung, Herr Professor! Professor Nietzsche! Erkennen Sie mich?
Nietzsche: (legt seinen Zeigefinger auf die Lippen) Psst! Ich bin inkognito hier(holt eine goldene Brille aus seinem Jackett und setzt sie auf). Mit wem habe ich die Ehre?
Gotthelf: Gotthelf Rüschli. Ich war drei Semester bei Ihnen eingeschrieben. Klassische Philologie. Ich habe Ihre Vorträge geliebt. Dreizehn Jahre dürften seit dem vergangen sein.
Nietzsche: Gotthelf? Rüschli? Ich glaube mich zu erinnern. Haben Sie nicht dieses vorzügliche Referat über die Vorsokratiker gehalten? Ich habe Ihnen eine große Karriere an den Universitäten Europas vorhergesagt.
Gotthelf: Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Herr Professor. Leider haben mir die vorsokratischen Philosophen nicht viel bei meiner akademischen Karriere geholfen. Ich bin jetzt Besitzer einer Seifenfabrik.
Nietzsche: Keine schlechte Profession. Aber soviel Seife können Sie gar nicht verkaufen, um den Mantel unserer Zeit wenigstens stellenweise zu reinigen.
Gotthelf: Ah, Herr Professor. Sie sind wohl immer noch der große Kritiker unserer Zeit und hartnäckige Kulturpessimist?
Nietzsche: Man muss heute pessimistisch denken, will man sich sein optimistisches Wesen bewahren.
Gotthelf: Sie haben in vielem Recht behalten. Auch mit Ihren Erfolgsprognosen für die Musik Richard Wagners. Dank Ihrer Empfehlung bin ich zu einem großen Verehrer dieses musikalischen Genies geworden. Wann immer es mein Geschäft erlaubt, folge ich den Premieren in Halbeuropa. Ich bin zur Zeit nur in Turin, um den Tannhäuser zu sehen.
Nietzsche: (jetzt in abweisendem Ton) Schade um die Zeit und um die Turiner Luft. Sie sollten lieber Ihre Seife unter die Leute bringen.
Gotthelf: Sie halten nichts von dieser Inszenierung? Die Kritiker überschlagen sich mit ihrem Lob und die gesamte Stadt ist wagnerizzata.
Nietzsche: Ich halte nichts von Wagner! Wenn ich Sie auf den falschen Weg geführt habe, dann tut mir dies unendlich leid. Man muss auch gegen sich selbst Stellung beziehen können. Ich habe mich geirrt. Die Ernährung meines Geistes hat jahrelang stillgestanden. Sehen Sie sich den Tristan an und vergessen Sie alles folgende. Wagner hat uns in eine Falle gelockt. Er ist der größte Lügner, den es in der Musik und Kunst überhaupt gibt. Er hat uns alle getäuscht. Er ist nicht die Überwindung der Dekadenz, sondern ihr Höhepunkt.
Gotthelf: Ich bin überrascht, dieses Urteil aus Ihrem Munde zu vernehmen. Erzählten Sie uns nicht, Sie wären der beste Freund des Meisters gewesen?
Nietzsche: Gewesen! Ich stand unter Drogen. Ein Narr ohne Kappe. Ein Jünger der Dekadenz. Naiv und verblendet. Dann bin ich aufgewacht. Ich konnte nicht glauben, was ich sah und hörte. Der Musik dieses Mannes fehlt Witz, Feuer, Anmut, die Leichtigkeit des Seins. Alles ist schwer, alles dient nur der Narkotisierung des Zuhörers. Er ist ein Cagliostro der Modernität. Statt Tanz der Sterne nur Todeszucken unterm Kreuz und Geisterbeschwörung. Ich habe voller Ekel Wagner den Rücken gekehrt. Sie sollten es mir gleich tun, junger Mann. Bevor Ihnen die Luft zum Atmen ausgeht.
Gotthelf: Verzeihen Sie, aber jeder sollte sich seinen eigenen Geschmack bewahren und sein eigenes Urteil bilden. Diese Worte hörte ich aus Ihrem Munde, Professor.
Nietzsche: Hier geht es nicht um Geschmack, sondern um Geschmacklosigkeit. Um ein Leben in Grabkammern oder ein Leben an frischer Luft. Sie entscheiden sich nicht zwischen schlechter und guter Musik, sondern zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Gotthelf: Ich bin wahrlich nicht arm, aber meine teure Eintrittskarte für die heutige Abendvorstellung werde ich nicht verfallen lassen.
Nietzsche: Heute sind wahrlich die Reichsten die Ärmsten. Wenn Sie nicht begreifen, was ich meine, dann nützt Ihnen nicht einmal Ihr Name noch etwas. Dann kann ihnen selbst Gott nicht helfen. Leben Sie wohl.
Verlässt die Buchhandlung.