14. Kapitel
Willi hatte Angst. Das erste Mal in seinem Leben. Zumindest in dieser Form und Intensität war ihm das Gefühl Angst bisher fremd gewesen. Er bekam keineswegs weiche Knie, wenn ihn hin und wieder einige Junkies in einer Nebenstraße Little Havannas mit ihren Messern bedrohten oder wenn ein Betrunkener ihn vor seiner Lieblingsbar provozierte. Auch als man im vergangenen Jahr in Kolumbien das Feuer aus Maschinenpistolen auf ihn eröffnete, war er vielleicht für eine Zehntelsekunde erschrocken gewesen, dann hatte er zurückgeschossen. Ohne zu zögern und ohne zu zittern. Wahrscheinlich war er sich seiner Stärken und Fähigkeiten bewusst, um solch brenzlige Situationen mit einem Lächeln oder einigen gekonnten rechten Haken zu meistern. Oder mit den Projektilen aus seiner Lignose. Diesmal aber hatte er Angst. Verdammte Angst. Kaum hatte er das Bewusstsein wiedererlangt, drückte er seine Finger auf die schmerzenden Stellen im Nacken und am Kehlkopf. Das zweite Mal in wenigen Tagen, dass er sich hatte ausknocken lassen. Mühsam öffnete er die Augen, um den rechteckigen Raum mit seinen Blicken abzutasten. Sofort begannen, seine Schweißdrüsen zu arbeiten. Die Hände wurden feucht und wären für eine Bombenentschärfung ungeeignet gewesen. Es sei denn, er hätte Suizidabsichten. Sein Herzschlag veränderte sich, seine Halsschlagader schien sich auszudehnen. Diese Mistkerle hatten seine einzig empfindliche Stelle getroffen: Seine Schlangenphobie. Er hasste Schlangen. Gewiss, es gab hübsche farbenfrohe Exemplare und sie mochten geschmeidig und elegant sein, auch an ihrer Bedeutung für den Haushalt der Natur zweifelte er keinen Augenblick. Aber – er hasste sie. Und er wusste auch warum. Er benötigte keinen Psychologen und keine Couch, um die Ursachen seiner Phobie ausfindig zu machen: Als Achtjähriger wurde er bei einem Ausflug mit seinem Vater in den Everglades von einer kleinen, fast schwarzen Wassermokassin, die er für einen Ast gehalten hatte, in die rechte Hand gebissen. Die Folgen waren nicht nur Schmerzen, Übelkeit, eine Woche Krankenhausaufenthalt und ein großer dunkler Fleck an der Stelle, wo die Zähne ins Gewebe eingedrungen waren, den keine Seife der Welt abwaschen konnte, sondern, und dies bis heute, grässliche Albträume mit Schlangen als Protagonisten.
Kein Tier der Welt erzeugte eine solche Abscheu bei ihm wie Schlangen, unabhängig von ihrer Größe, ihrer Gefährlichkeit oder ihrer Farbe. Die Königskobra, die sich sofort aufrichtete als er sich vom Boden erhob, besaß eine faszinierende Hautzeichnung. So etwas hatte er noch in keinem Filmbericht oder auf irgendwelchen Fotos gesehen. Das Tier war gelblich-braun und die schuppige Haut wurde von hellen weißlichen Querbändern durchzogen. Man hatte den Eindruck, sie wäre in Leuchtfarben getunkt worden. Auf dem Kopf glänzte ein roter Punkt, der fast wie eine Krone aussah. Er schätzte die Länge des Tieres auf über vier Meter. Ein prächtiges und ungewöhnliches Exemplar, das den Namen Schlangengott wahrlich verdient hatte. Obwohl, ein wenig Galgenhumor regte sich in ihm. Eigentlich konnte er doch von Glück sagen, dass er nicht eines der wirklich großen Exemplare zum Mitbewohner erhalten hatte. Oder zum Henker. Erst vor einigen Monaten brachten die Nachrichten eine Meldung über ein Dorf in Indien, in dem zwei Männer eine Königskobra gefangen hatten. Diese sei für das Guinness Buch der Rekorde angemeldet. Sie würde eine Länge von 5,76 Metern aufweisen. Da hätte er bestimmt Probleme bekommen. Aber so? Maximal vier Meter und zwanzig. Oder vier Meter und dreißig. Es dürfte kein Problem werden, hier wieder lebend herauszukommen. Zumal man ihm tatsächlich die Handschellen abgenommen hatte. Er blieb stehen, rührte sich nicht, jede Bewegung konnte das fauchende Tier zu einem Angriff verleiten. Wobei er in dem Artikel auch gelesen hatte, dass Kobras gar nicht so angriffslustig wären, es sei denn, sie fühlten sich bedroht oder die weiblichen Tiere hätten Angst um ihre Eier. Er hoffte, der Artikel basierte auf gesicherten Kenntnissen.
Das Todesurteil war gesprochen. Wie konnte man dieses noch verschärfen? Was wäre, wenn man die Deckenlampe ausschalten würde? Er allein mit diesem hübschen, beeindruckenden, widerlichen Monster, ohne auch nur eine Hand vor Augen sehen zu können? Einen schlimmeren Albtraum konnte es nicht geben. Seine Hände waren so feucht, dass er ein großes Handtuch oder einen Monsterfön gebraucht hätte, um sie wieder trocken zu bekommen. Vielleicht ließen sie das Licht aber absichtlich an? Kobras waren, wie er sich zu erinnern glaubte, tagaktive Reptilien. Im Dunkeln würden sie nur ein Schläfchen halten. Aber, ob er sich bewegte oder nicht, er strahlte Wärme ab und mit jeder Sekunde mehr. Sein Blutkreislauf wurde durch die Angst beschleunigt und die Schweißdrüsen arbeiteten auf Hochtouren. Er versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Er musste sich beruhigen und nachdenken. Was angesichts der Kopfschmerzen, der Schluckbeschwerden und der bedrohlichen Situation alles andere als leicht war. Bloß keine Panikattacke.