Auszug aus dem 28. Kapitel
„Es wäre nett, wenn Sie mich jetzt verlassen würden, ansonsten werde ich Sie von meinen Leuten entfernen lassen.“
„Ich gehöre nicht nur zu einer Schicht, die man nicht vor den Türen herumlungern, sondern auch zu einer, die sich nicht einfach vor die Tür setzen lässt!“
Er zuckte mitleidig und verächtlich mit den Schultern und drückte auf einen Knopf, der sich an seinem Schreibtisch befand. „Sie glauben gar nicht, was ich alles kann.“
Bereits zehn Sekunden später stand ein Herr in der Tür, dessen Anblick auch einem Hulk Hogan eine Gänsehaut beschert hätte. Der Stoff seines Anzuges hätte wahrscheinlich zur Herstellung eines mittelgroßen Zirkuszeltes ausgereicht. Ich war mir über den Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen durchaus im Klaren. Aber ganz sicher waren in diesem Fall beide identisch. Ich hätte nicht nur meine Hand, sondern gleich alle Gliedmaßen einschließlich meines wichtigsten für diese Behauptung ins Feuer gelegt. Der Kerl hatte eine flache Stirn, wulstige Lippen, eine dicke tiefrote Nase und einen kurzen Hals, dies in harmonischer Synthese mit den schmalen Augen. Ich kam zu einem Urteil, das auf einem reichen Erfahrungsschatz basierte: Dieser Typ würde auch durch jahrelanges kontinuierliches Kiffen seinen IQ nicht mehr senken können. Er würde nicht nur keinen Preis bei einem Intelligenzwettbewerb gewinnen können, nein, diesen Typen würde man nicht einmal bei einem solchen Wettbewerb die Zulassung erteilen. Aber bei einem anderen Wettbewerb hätte er wohl Erfolgsaussichten: seinen Mitmenschen, in möglichst kurzer Zeit die größte Anzahl von Knochen zu brechen.
Mein kleiner linker Finger begann wieder einmal zu schmerzen. Ich wollte ihn nicht noch einmal verlieren. Und meine Nase war mir schon als Vierzehnjähriger bei einem Schulboxkampf gebrochen worden, mit sichtbaren Langzeitfolgen, ich brauchte keinen Wiederholungskampf. Ich muss zugeben, mein Herzschlag verdoppelte sich in kürzester Zeit. Trotz meiner großspurigen Worte hatte ich kein gutes Gefühl in der Magengegend, und wenn ich nicht aufpasste, würde der Gorilla dafür sorgen, dass ich meine Nahrung in Zukunft per Strohhalm oder Ernährungsschlauch zu mir nehmen musste. Ich hatte Angst, auch wenn ich dies Joanne und meinen Mitarbeitern gegenüber nie zugegeben hätte. Aber zum einen hatte mein Verhalten einen Sinn gehabt, arrogante Menschen wie Gregg Morgan konnte man nur beeindrucken, wenn man sie an Arroganz überbot. Er musste einsehen, es nicht mit einem Schmalspurschnüffler oder einem bestechlichen Dade-Streifenpolizisten zu tun zu haben. Er musste an ernstzunehmende Gegenspieler glauben. Und er sollte dazu verleitet werden, unvorsichtige Spielzüge zu machen.
Zum anderen hatte ich zwar Angst, aber wo andere beim Spiel noch ein Ass im Ärmel hatten, hatte ich ja meine geliebte Lignose. Seit der technischen Revolution war es ratsamer, im Kampf Mensch gegen Maschine auf die Maschine zu setzen. Oder im Kampf Muskelkraft gegen Sprengprojektile auf die Projektile. Ein Gewichtheber konnte vielleicht ein Gewicht von 242,5 kg heben, eine tolle Leistung, aber ein Kran schaffte 18 Tonnen. Ein fernöstlicher Großmeister konnte seine Hand mit einer Kraft von einer Tonne auf einen Ziegelstein auftreffen lassen. Ein Geschoss aus meiner Pistole würde vielleicht nicht genug Energie besitzen, um den Stein zu durchschlagen, aber den riesigen Bauch aus Fett, Muskeln, Blut und viel Wasser würde es ganz sicher durchdringen, zumal ich Spezialmunition im Magazin hatte. Verboten, aber sehr wirkungsvoll. Meine Angst war also begründet, aber dank der modernen Technik und meiner Fähigkeit, mit dieser umzugehen, beherrschbar. Ich war in den letzten Jahren zu einem Waffenliebhaber geworden. Nicht, weil ich gerne auf Menschen schoss, sondern, weil Waffen große Vorteile mit sich brachten: Sie ersparten einem viel an Lebenszeit, die man ansonsten durch langatmige und unnütze Diskussionen mit Idioten verloren hätte und sie hielten das Budget für Zahnersatz in überschaubaren Grenzen.
Der smarte Gregg gab seinem Golem ein Zeichen und meinte mit einem süffisanten Lächeln: „Los Charles, setz ihn vor die Tür! Und nimm keine Rücksicht auf seinen Anzug oder seine Gesundheit! Und durchsuche ihn gründlich, er hat bestimmt ein Aufzeichnungsgerät bei sich!“
Der Riese wollte meinen Arm packen, den hatte ich aber schon blitzschnell nach oben gerissen und meine Lignose in der Hand. Dem Blick konnte ich entnehmen, dass – wie schon bei anderen Vorstellungen – mein Zaubertrick seine Wirkung nicht verfehlt hatte.
„Hinlegen! Arme und Beine weit vom Körper spreizen!“
Er wusste bei seinem fehlenden IQ offenbar nicht, wie er reagieren sollte. Er schaute ratlos zu seinem Anführer. Ich wollte seine Entscheidung in Richtung Überleben beeinflussen.
„Meine Pistole enthält vier Sprenggeschosse, ich brauche für dich nur ein einziges Projektil. Auf fünf Meter Entfernung kann ich einer Fliege ein Auge ausschießen. Es wäre also besser für die Unversehrtheit deines Kopfes, wenn du meiner Aufforderung nachkommen würdest!“
Ich hatte natürlich gelogen, ich hatte noch nie auf eine Fliege geschossen. Was das Tierreich anbelangte, vermochte ich nicht einmal der berühmten, so oft zitierten Fliege etwas anzutun. Bei der Welt der Zweibeiner war ich aber weniger rücksichtsvoll. Im letzten Jahr hatte ich auf vier Meter Entfernung ins Auge des Sekretärs von Richter Fullham getroffen. Darauf war ich nicht stolz, auf einer Scheibe wäre das höchstens eine Neun gewesen. Eigentlich hatte ich die Stirn anvisiert. Der Schuss hatte mein Leben gerettet, im Bündnis mit meinem Cabbalero-Hemd. Die Geschichte wollte ich an dieser Stelle nicht vortragen, dies hätte etwas angeberisch gewirkt, deshalb beließ ich es bei dem Verweis auf die Fliege und ihr Auge. Dieser Verweis tat nun auch seine sichtbare Wirkung. Der Gorilla legte sich, wenngleich etwas zögerlich, auf die hübsche hellbraune Auslegware und streckte seine Gliedmaßen weit von sich. Ich liebte Waffen, ohne meine Lignose wäre ich bestimmt in einem eher desolaten Zustand in meinem Apartment angelangt und hätte mich von Joanne pflegerisch versorgen lassen müssen, anstatt ihr zu geben, was ihr nach einem solchen Tag der Trennung zustand. Ich würde den starken, coolen und liebeshungrigen Apartmentmitbewohner demonstrieren können.
„Und Sie, lieber Mister Morgan, überlegen sich noch einmal in Ruhe, ob es nicht besser wäre, ihren Sicherheitschef ans Messer zu liefern, mit einer halbwegs plausiblen Geschichte, als selbst vor Gericht zu wandern oder anderweitig Scherereien zu bekommen. Vielleicht von Ihren Freunden von der SCAN.“
Die linke Augenbraue zuckte. Nur kurz und doch verräterisch.
„Sie werden sterben, Mister Tenner. Ich gebe Ihnen darauf mein Wort.“
Ich hatte wieder einmal eines meiner Déjà-vus. Genau diese Worte hatte ich im vergangenen Jahr mit Richter Fullham gewechselt, bevor dieser sich – als letzte Geste der Ehrerbietung gegenüber der schönen Erde – den Lauf seines Jagdgewehres in den Mund steckte und dann abdrückte. Was ich zum Glück nur hören, aber nicht mit ansehen musste. Ich mochte kein Blut. Und vor allem keine Gehirnteilchen auf meinem maßgeschneiderten Sakko aus feinstem Garn.
Lag es an mir oder an der begrenzten Kreativität der Bösen? Vielleicht hatten diese Teufelskreaturen nur einen begrenzten Wortschatz und nur eine überschaubare Anzahl von Verhaltensweisen im Repertoire?
„Die Wette werden Sie, sofern der Tod nicht nur eine Illusion sein sollte, auf jeden Fall gewinnen.“
„Diese Wette gewinne ich innerhalb von sieben Wochen. Sollten Sie dann noch am Leben sein, bekommen Sie einen Dollar von mir. Ansonsten spendiere ich Ihnen eine fürstliche Bestattung.“
„Ich werde meinen Dollar einfordern, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und weder Sie noch die SCAN oder Ihr Mister Jay können mir Angst einjagen.“
Bei der Wiederholung des Namens SCAN in Zusammenhang mit Jay zuckte die Augenbraue erneut, ich hatte den Eindruck, Gregg an einem besonders wunden Punkt getroffen zu haben.
„Auf Wiedersehen. Und ich wünsche Ihnen einen immerwährenden Stuhlgang.“
Bei diesem Wort kam mir in den Sinn, meinen eigenen Abgang etwas sicherer zu gestalten. Ich griff mir einen der stabilen Bürostühle, öffnete die Tür und schob, nachdem ich sie von außen geschlossen hatte, den Stuhl schräg unter die Klinke. Als ich einen der insgesamt fünf Fahrstühle erreicht hatte, hörte ich schon, wie man von innen versuchte, die Tür aus den Angeln zu heben. Zum Glück war der zweite Fahrstuhl gerade auf dem Weg ins Erdgeschoss und hielt, nachdem ich den Knopf gedrückt hatte, wenige Sekunden später auf dieser Etage. Ein junger Mann in einem glänzenden, dunkelgrauen, gut sitzenden Anzug schaute kurz hoch, nickte mir zu und vertiefte sich dann weiter in eine Mappe, die er aufgeschlagen hatte. Ein Hochglanzprojekt für Hochseejachten. Der junge Mann überlegte wahrscheinlich, wofür er die nächste Millionen-Provision ausgeben konnte. Die Lignose hatte ich nicht wieder in die Schiene zurückgedrückt, sondern hielt sie möglichst unauffällig und verdeckt in der Hand. Vielleicht hatte Morgan den Sicherheitsdienst verständigt und mir ein Empfangskomitee an die Rezeption geschickt.
Ich musste die Waffe nicht benutzen. Warum auch immer, der Bankchef und für mich gleichzeitig Auftraggeber eines Mordes, hatte darauf verzichtet, Alarm zu schlagen. Kein einziger Sicherheitsbeamter wartete auf mich. Meine einsatzbereite Lignose konnte sich für heute zur Ruhe begeben. Aber ich sollte nicht mehr zur Ruhe kommen, denn ich hatte mich mit dem Teufel angelegt oder einer ganzen Horde von ihnen, jener, die selbst die Hölle nicht mehr haben wollte und auf die Erde verdammt hatte. Und wieder war die Sieben ein Menetekel.